Süße Weihnachten
2017 ging ich zu Beginn des Monats November wie so oft durch den Supermarkt in meinem kleinen Studentenstädtchen, als plötzlich Melanie Thorntons berühmter Weihnachts-Song “Wonderful Dream” ertönte. Wie jedes in den 2000ern sozialsierte Kind muss ich beim Hören dieses Songs immer an den Coca Cola Truck im dazugehörigen Video denken. Und dies reichte aus, um mich auf die Idee für eine wahnwitzige Weihnachtsgeschichte für mein Patenkind zu bringen:
Es war einmal ein junges Rentier, das nicht fliegen konnte, aber unbedingt des Weihnachtsmanns Assistent sein wollte! „Rudolph“, sagte seine Mutter stets, „du hast viele Talente, ein Herz aus Gold und einen gescheiten Kopf – nur Flugkräfte hast du nicht!“. Doch Rudolph wollte seiner Mutter nicht glauben. Sagt Mama nicht immer, dass selbst ein dürres Hemd mit viel Willenskraft Berge zu versetzen mag?
Das junge Rentier fühlte sich von seiner Familie nicht verstanden. Alle Rentiere strebten doch schließlich danach, des Weihnachtsmannes Assistenten zu werden – mit Farbenpracht und Glockenschall durch die Nacht zu fliegen und Kindern wie Erwachsenen Freude zu bringen. Auch er, Rudolph, strebte danach, ja, wünschte sich gar nichts sehnlicher, als einmal diesen Schlitten durch die Welt zu ziehen. Dafür trainierte er Tag und Nacht seine Nackenmuskulatur wie auch seinen Bizeps und Trizeps. Schließlich ist die zu transportierende Fracht kein Zuckerschlecken für den Schlittenziehenden!! Doch egal wie sehr er pumpte und trainierte, vom Boden abheben wollte sein Körper nie.
Eines Tages war Rudolph kurz vorm Aufgeben. Wochenlang hatte er seine täglichen Mahlzeiten durch zwei nach Erbrochenen ausschauenden dickflüssigen Proteinshakes ausgetauscht, die ihm eher den Magen „reinigten“ als füllten. Und das alles nur um anschließend wie ein Verrückter Gewichte zu stemmen und auf dem Laufband auf höchster Stufe dem Bewusstseinsverlust entgegen zu sprinten. „So geht das nicht weiter“, sagte er sich. „Ich sehe nun fast aus wie Arnold Schwarzenegger, kann aber immer noch nicht fliegen!“.
Also kündigte er sein Fitnessstudio-Abo und lief zu seinem Freund Max, den er wegen seines straffen Trainingsprogrammes seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. „Max!“, rief er sobald dieser ihm die Tür öffnete, „ich habe so richtig Lust auf Currywurst mit Pommes, lass uns was essen gehen!“. Sein Freund war für einen solchen Imbiss immer zu haben und folgte Rudolph zu Hotte, dem Imbiss-Rentier. Nachdem er gierig seine köstliche Speise verschlungen hatte, erzählte er von seinem Problem. Max nickte verständnisvoll und sagte mit einem spitzbübischen Lächeln: „ Ich glaube, ich habe da was für dich“. Bei diesem Satz verwandelten sich Rudolphs Pupillen in riesengroße Knöpfe und sein Herz tanzte wie verrückt. Ist die Lösung seines Problems etwa zum Greifen nahe?
Als Max seinen Plan zu Ende erzählt hatte, stand Rudolph auf und verkündete feierlich seine Bereitschaft zu diesem seltsamen Experiment. „Ein Rentier muss tun, was ein Rentier zu tun hat“, sagte er – nicht ohne Emotionen.
Eine Stunde später hatte Rudolph einen Trichter im Mund und Max stand neben ihm auf einem Hocker mit einer 5 Liter Cola –Dose. „Bist du bereit?“, fragte er. „Aber so was von! Kipp rein, das Blubberwasser!“. Mit einem lauten Zisch öffnete Max die Dose und kippte ihren Inhalt in die große Öffnung des Trichters:
Der erste Liter floss bequem,
Der zweite schon weniger,
Der dritte Liter war gar nicht mehr genehm!
Der vierte forderte ihn stark heraus und
Der fünfte Liter machte bei ihm das Lichtlein aus.
Max hörte nur noch einen dumpfen Aufschlag, als Rudolph mit seiner mühsam antrainierten Muskelmasse auf den Boden klatschte. Eine Stunde lang lag er da und krümmte sich den Bauch, die Augen in Schmerzen verkrampft. Doch dann, plötzlich, wurde Rudolph von einer wahnsinnigen Energie gepackt. Sein Herz pochte wie wild, sein Körper vibrierte und seine Hufen scharrten.
Mit einem ohrenbetäubenden Rülpser sprang Rudolph plötzlich an die Decke und rannte, anschließend, wie von einer Tarantel gestochen, los, an Max vorbei und aus der Garage hinaus. Max spürte nur einen Luftschwall, drehte sich verdattert um und sah nur noch von weitem den Popo seines Freundes, wie er sich immer weiter in die Lüfte bewegte.
„Ich kann flieeeeeeegen!!!!!! Yuhuuuuuuu!!! Ich hab’s euch doch gesagt!“. In einer Mordsgeschwindigkeit flog Rudolph über sein Dorf hinweg, machte eine große Runde um den Erdball, vorbei an den Polkappen und wieder zurück ins Dorf. Dort angekommen fiel ihm ein, dass er keine Ahnung hatte, wie man geschickt und ungefährlich landen kann. Inzwischen war das gesamte Dorf in heller Aufruhr. Von Rudolphs Glücksschreien alarmiert, waren die Einwohner in ihre Vorgärten oder auf die Straße geeilt, um gerade noch einen raschen Blick auf die sich immer weiter entfernende Silhouette des jungen und eigentlich nicht flugfähigen Rentiers zu ergattern. Nun sahen sie dessen herannahende Bruchlandung kommen.
„Holt eine Matratze“, schrie ein älterer Ren-Mann, „wir müssen ihn auffangen!“. Eine benachbarte Familie trug rasch eine Doppelbett-Matratze hinaus und mehrere tragfreudige Rentiere eilten herbei um Position für die Landung einzunehmen. „Hiiiiiiiiiiiiilfeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee“, schrie Rudolph mit panikerfülltem Gesicht. Sein unkoordinierter Flug ließ die Matratzenhalterinnen mehrmals die Position wechseln, sodass sie ganz ins Schwitzen kamen und bereits außer Atem waren, als Rudolph schließlich mit voller Wucht auf ihre Matratze aufprallte. Zunächst wurde er abermals nach oben katapultiert, dann, beim dritten Aufprall kam er jedoch endlich zum Liegen. Erleichtert legten die haltenden Rentiere ihn mit der Matratze auf den Boden und ließen sich von dem in Feierlaune versetzenden Einwohnern feiern.
Rudolphs Familie war allerdings so gar nicht in Feierlaune. Sie brachte den benommenen und übermüdeten Abenteurer ins Bett und verschob die Standpauke auf den darauffolgenden Tag.
In der Zwischenzeit war auch der Weihnachtsmann von Rudolphs einmaligen Ausflug in Kenntnis gesetzt worden. Den Überbringerinnen dieser Nachricht warf er nur einen nachdenklichen Blick zu und verschwand daraufhin in seiner Garage, wo er bis zu den frühen Morgenstunden verblieb. Am darauffolgenden Morgen, als Rudolphs Mama am Frühstückstisch Luft holte, um all ihre Wut und Sorge aus ihrem Mutterherz zu fauchen, klopfte es plötzlich an der Tür. „Wer stört uns denn zu einer solch frühen Stunde – und dazu noch beim Frühstück?!“, schrie sie. Die Rötung ihres Gesichts hatte noch nicht den Haarschopf erreicht, als sie zu ihrer großen Verblüffung den Weihnachtsmann in die Küche eintreten sah, in der Hand einen riesigen Sack tragend. Rudolph lief die Milch aus dem Mund, so erstaunt war er von diesem Besuch. „Du bist also Rudolph?“, fragte der Weihnachtsmann. Rudolph nickte verlegen. Mit einem leicht verschmitzten Lächeln sprach der weißbärtige Mann mit seinem rotweißen Anzug zu ihm: „Ich habe von deinem Experiment gehört“. Rudolph spürte die wütend funkelnden Augen seiner Mutter im Nacken. Doch schließlich fuhr der Weihnachtsmann fort: „Deine Idee war zwar nicht die schlauste, aber dein großer Wunsch nach Fliegen war nun einmal stärker als dein Verstand. Ich sehe, dass es dir wirklich ernst damit zu sein scheint und möchte dir deshalb helfen, deinen Traum zu verwirklichen“. Aus seinem großen Sack holte er einen riesig großen und breiten Gegenstand. „Diese Flügel habe ich mit eigenen Händen gebaut. Ich möchte, dass du sie trägst, wenn wir nächstes Jahr zusammen Geschenke austragen. Solange musst du fleißig üben, mit diesen umzugehen. Meinst du, du kannst das schaffen?“. Rudolphs Verblüffung wich der Euphorie: „Ja klar,
Und von diesem Tag an ließ Rudolph seine Flügel keine Sekunde aus den Augen. Jeden Tag, wenn er aus der Schule kam, trainierte er zwei Stunden seine Flugkräfte. Kein einziger Rückschlag konnte ihn von seinem Ziel abhalten und als der große Tag gekommen war, stand er, seine Flügel umgeschnallt, vor der Haustür des Weihnachtsmannes, bereit mit diesem und zahlreichen Geschenken abzuheben.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch bis heute.